Thorsten Hunger

Wie wird man eigentlich… Berufsbetreuer?

Thorsten Hunger machte sich nach einer langen Laufbahn in sozialen Berufen mit 40 als Berufsbetreuer selbstständig.

Ein tragischer Unfall, eine schwere Krankheit, psychische Probleme oder eine Sucht – und schon braucht man möglicherweise die Hilfe eines gesetzlichen Betreuers. Wenn es keine Angehörigen gibt, die sich um rechtliche Angelegenheiten im Bereich Wohnen, Gesundheit, Behörden oder Finanzen kümmern, sind Menschen wie Thorsten Hunger gefragt. Der gebürtige Krefelder hat einen vielseitigen Beruf gewählt, der mit viel Verantwortung, zahlreichen Pflichten, aber auch einigen Mythen ausgestattet ist. Warum er sich dennoch keine schönere Arbeit vorstellen kann, erfuhren wir ganz entspannt in einem kleinen Wohnmobil mit Bürohund Caspar.

„Kein Mensch besteht für sich allein, wir müssen all uns hilfreich sein.“ Mit diesem Goethe-Zitat stemmt sich Thorsten Hunger schon auf der Webseite seines Betreuungsbüros gegen das vermeintlich schlechte Image seiner Branche. Als die amerikanische Popsängerin Britney Spears 2021 nach einem erbitterten Rechtsstreit aus der Vormundschaft ihres Vaters Jamie entlassen wurde, geriet das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit – und auch ein bisschen in Verruf. Dabei kann ein Fall wie dieser in Deutschland gar nicht passieren: „Seit 1992 dürfen Menschen nicht mehr entmündigt werden“, sagt der 50-Jährige nachdrücklich. „Wir regeln vieles, aber wir bevormunden nicht!“ Er wirkt etwas angefasst darüber, dass 33 Jahre später immer noch so viele Klischees existieren. Tatsächlich bleiben seit dem Inkrafttreten des Betreuungsrechts die Betroffenen geschäftsfähig, wahlberechtigt, ehe- und testierfähig, schreibt der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen e.V. im schönsten Juristendeutsch. Die Auswahl der zu beantragenden Hilfen richtet sich nach dem Hilfebedarf und der zugrundeliegenden Erkrankung. „Maßgeblich sind aber stets die Wünsche und Interessen des betreuten Menschen, es sei denn, dass sich dieser krankheitsbedingt selbst schaden würde“, betont Hunger. Und setzt mit ruhiger Stimme nach: „Wir gehen den Weg ein Stück gemeinsam.“

Der Wahl-Gelderner, seit 2014 als Berufsbetreuer und Verfahrenspfleger selbstständig, hat sich den Montagnachmittag für uns freigeschaufelt und dreht mit Mischling Caspar eine kurze Gassirunde durch den Krefelder Stadtgarten neben dem Amtsgericht, bevor wir in eine bewegte Biografie eintauchen, die nach einigen Umwegen seiner wertschätzenden wie hartnäckigen Persönlichkeit entspricht. Aufgewachsen in Oppum, mit drei Geschwistern und als Teil einer typischen „Bayer-Familie“, absolviert er nach der mittleren Reife zunächst eine Lehre als Chemikant. „Es musste halt Bayer sein“, seufzt er und zieht die Schultern hoch. Doch rasch wird ihm klar, dass er lieber im sozialen Bereich arbeiten möchte. Noch heute schwärmt der Mann mit dem dezenten Lächeln vom Zivildienst als Pflegekraft – der „besten Zeit seines Lebens“, in der viel gelacht wird und Raum für zwischenmenschliche Zuwendung bleibt. Nach der zweiten Ausbildung zum examinierten Krankenpfleger sammelt Thorsten Hunger umfangreiche Erfahrungen in der akut geschlossenen Psychiatrie, arbeitet in verschiedenen pflegerischen Fachbereichen und wechselt schließlich in die Altenpflege. „Dort habe ich zunächst einen, dann zwei Wohnbereiche geleitet, bis ich ins Qualitätsmanagement wechselte und zudem Assistent eines der Geschäftsführer wurde“, blickt er selbstbewusst auf eine solide Basis für den anspruchsvollen Beruf des gesetzlichen Betreuers. Als sein Betrieb umstrukturiert wird, muss sich der erfahrene Wohn-und Pflegedienstleiter beruflich umorientieren und wagt mit 40 Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit.

Eine staatlich anerkannte Ausbildung gibt es für Berufsbetreuer in Deutschland nicht, verlangt werden eine Registrierung bei der jeweiligen Betreuungsbehörde sowie ein sogenannter Sachkundenachweis. Alles ist genau gesetzlich geregelt, auch die Vergütung mit monatlichen Fallpauschalen und gestaffelten Stundensätzen. Wer über ein zweites juristisches Staatsexamen oder ein abgeschlossenes Studium der Sozialpädagogik oder der Sozialen Arbeit verfügt, benötigt keinen weiteren Nachweis der Sachkunde. Alle anderen können einen Lehrgang mit elf Modulen, die Kenntnisse im Betreuungs- und Sozialrecht, der Kommunikation und der Vermögensverwaltung vermitteln, oder Studiengänge an Hochschulen in Deggendorf, Wismar oder Berlin absolvieren. Thorsten Hunger betont, dass vor allem Soft Skills wie Empathie, Geduld und Hartnäckigkeit eine starke Rolle spielen im Joballtag: „Man sollte sich schon ein dickes Fell zulegen und differenzieren können zwischen der Rolle und der Person. Wir bekommen sehr intime Einblicke in das Leben von Menschen, die unsere Hilfe benötigen.“ Wenn er von Vernachlässigung, Fliegen in der Wohnung oder eingewachsenen Socken spricht, ahnen wir, dass es viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit Betreuten und eventuellen Angehörigen braucht.

Hunger will darüber aufklären, dass Betreuung kein Manko, sondern sinnvolle Begleitung in einem fest definierten Aufgabenkreis sein kann, wie Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögen, Umgang mit Behörden oder das simple Öffnen der Post. Auf seiner Webseite und im persönlichen Gespräch nennt er immer wieder Beispiele, wie gesetzliche Betreuer – er nennt sie lieber Prokuristen – bei Bedarf ortsnahe Hilfen einrichten: „Ein betreuter Mensch ist gesundheitlich nicht mehr in der Lage, selbst seine Einkäufe zu erledigen. Meine Aufgabe ist jetzt nicht, einkaufen zu gehen, sondern eine pragmatische Hilfe vor Ort zu organisieren, beispielsweise eine Alltagshilfe.“ Gleichzeitig solle eine Betreuung nicht noch zusätzlich zur Unselbstständigkeit beitragen, sondern die Eigeninitiative fördern. Ein drogenabhängiger 20-Jähriger, der an Depressionen litt und statt zu arbeiten lieber den ganzen Tag an der Playstation zockte, ist ihm noch gut im Gedächtnis geblieben. „Ich musste den jungen Mann erst mal dazu bewegen, überhaupt zu einem Gespräch ins Büro zu kommen“, erinnert er sich an einen Fall, den er schnell wieder abgeben konnte, weil es mildere Mittel gab: ambulantes betreutes Wohnen, einen Haushaltsplan und die Begleitung zu Arztterminen.

Grundsätzlich könne jede Person eine Betreuung für jemanden vorschlagen, also auch ein Fremder, der das Gefühl hat, dass eine Nachbarin mit dem Leben nicht mehr richtig fertig wird. Die Ursachen seien so abwechslungsreich wie sein Berufsalltag, zählt Thorsten Hunger Fällevon Demenzerkrankungen, Depressionen, Psychosen, Schlaganfällen oder angeborener Intelligenzminderung auf. Jede Anfrage landet bei einem Betreuungsgericht und wird ausgiebig durch ärztliche Gutachten und Atteste belegt. Die Kompetenzen des Betreuers sind klar definiert, und allen Unkenrufen zum Trotz gibt es auch Grenzen, so Hunger. „Ich darf nicht einfach so eine Mietwohnung kündigen oder ein Haus verkaufen. Aber ich kann es beantragen, sofern es wirklich notwendig ist. Das Gericht bestellt dann einen Verfahrenspfleger, um zu prüfen, ob sich nicht andere Lösungen finden lassen. Letztendlich muss das Gericht zustimmen.“

Der Bedarf an professioneller Hilfe ist groß, allein in Krefeld sind aktuell rund 4.000 Personen betroffen. Demgegenüber stehen nach Angaben der Stadtverwaltung etwa 60 überwiegend selbstständige Berufsbetreuer, die im Schnitt zwischen 40 und 60 Klienten betreuen. Auch wenn sein Job weder lau noch frei von Herausforderungen ist, will sich Thorsten Hunger „noch mindestens 20 Jahre lang“ mit Energie und Herzblut für die Interessen seiner Klienten einsetzen. Zur Not legt er sich auch mal mit Ärzten oder Ordnungskräften an, gesteht er mit einem Augenzwinkern. Das Handyklingeln weckt Caspar auf, der unser Interview verschlafen hat. Und wir hören die Titelmelodie der Golden Girls: „Thank You For Being A Friend.“ Passt doch!

Fotos: Lucas Coersten
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